Geschichte

Die Geschichte des Instituts für Physiologie und Pathophysiologie in Erlangen

Verfasst von Prof. Dr. med. Dr. h.c. Karl-Heinz Plattig

Gemälde von Prof. RosenthalPhysiologie wird in Erlangen gelehrt, seit die Friedrich-Alexander-Universität am 4.11.1743 gegründet wurde. Anatomen hatten diese „Lehre von den funktionellen Lebenserscheinungen“ ins Leben gerufen, weil sie sich mit der statischen Behandlung des Aufbaus von Mensch und Tier nicht zufrieden gaben. Als „Gründungsschrift“ dieser Neubelebung seit den Zeiten von Hippokrates und dem antiken „Physiologus“ gilt die „Exercitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in animalibus“ (Anatomische Abhandlung über die Bewegung von Herz und Blut in Tieren). Darin berichtete der Engländer William Harvey 1628 über genial einfache Experimente, mit denen er nachwies, dass das Blut in einem geschlossenen Kreislauf zirkulieren müsse und nicht, wie bis dahin angenommen, ständig in der Leber neu gebildet und dann in den Geweben völlig „verbrannt“ werde.

Ansicht des Institutes vom Schloßgarten, 1865, damals noch Anatomie
Ansicht des Institutes vom Schloßgarten, 1865, damals noch Anatomie

Zum Wintersemester 1743/44 bestand die Medizinische Fakultät in Erlangen aus fünf Professoren, und jeder von ihnen kündigte etwas aus dem weiten Feld der Physiologie an. Schmidel z. B. las „Osteologie, Botanik mit Exkursionen, Anatomie mit Demonstrationen, Physiologie nach Boerhave Pathologie & Semiotik, Mineralogie nach Linné, allg. und spezielle Therapie, Arzneimittellehre, allgemeine Naturgeschichte, über Entwicklung des foetus“ und später dazu „gerichtliche Medizin, allgemeine Übersicht der Naturreiche, sowie Diätetik und Chirurgie“. Ab 1749 führte er auch Sectionen durch (s. Engelhardt 1843). Diese Aufzählung zeigt, dass die Physiologie damals nur „nebenbei“ betrieben wurde und dass für Forschung im heutigen Sinn sicher keine Zeit gewesen sein kann.

 

Zum selbständigen Ordinariat erhoben wurde unser Fach in Erlangen mit der Berufung des ersten Vollphysiologen aus Berlin hierher. Im April 1872, 9 Jahre nachdem der Anatom und Physiologe Joseph von Gerlach als ersten Universitätsneubau am südlichen Schlossgartenrand (Universitätsstraße 17) das Gebäude der heute noch zuweilen so genannten „Zweiten“ oder „Alten Anatomie“ durchgesetzt hatte, nahm Isidor Rosenthal (1836-1915), langjähriger Assistent des berühmten Berliner Physiologen Emil du Bois-Reymond, zum Sommersemester 1872 seine Arbeit als ordentlicher Professor für Physiologie und zunächst auch Hygiene in diesem Gebäude auf, in dem noch heute die Physiologie (Institut I) zuhause ist.

Ansicht des Institutes um 1965
Ansicht des Institutes um 1965

Nachdem der Anatomie ein Neubau an der Ecke Krankenhaus-/ Universitätsstraße errichtet worden war, konnte Rosenthal nach mehrjährigem Zwischenaufenthalt in der bisherigen „Entbindungsanstalt“, auf deren Areal heute das Pathologische Institut steht, in diese „Alte Anatomie“ zurückkehren; sie war 1897-1903 nach zähen Verhandlungen für die Physiologie umgebaut worden.

Unter Rosenthals zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten ragt die z. T. noch in Berlin entwickelte Tablettenpresse hervor, mit der er sich 1872 in Erlangen einführte und die die Pharma-Industrie damals entscheidend voranbrachte. 1871 war er als Truppenarzt im deutsch-französischen Krieg mit dem Eisernen Kreuz „am weißen Bande“ (für Nichtkämpfer) ausgezeichnet worden, und in Erlangen hat er sich nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Politiker und Mitglied des Stadtrats verdient gemacht: als Hygieniker förderte er die Errichtung eines Volksbades mit Duschen und Wannen „für die ärmeren Schichten“, des Schlachthofs, des Pauli-Brunnens auf dem Marktplatz ebenso wie die Errichtung der „Sekundär­bahn“ Erlangen-Gräfenberg.

Nachfolger Rosenthals wurde am 1.10.1913 Ernst Weinland (1869-1932), der in den letzten Jahren „wegen Krankheit“ vom Konservator des Instituts Kurt Groß (1887-1969) vertreten und zum 1.8.1932 in den Ruhestand versetzt wurde. Ab 1.10.1932 war Richard Wagner (1893-1970) Chef in Erlangen, der aber bereits zum 1.10.1934 einem Ruf nach Breslau (heute Wroc»av) folgte und ab 1941 in München tätig war. Rupprecht Matthaei (1895-1976) folgte ihm zum 1.4.1935; als „ardent supporter“ (NSDAP-Mitglied seit 1931) wurde er am 6.6.1945 von der US-Militär­regierung entlassen. 1951 wurde ihm die Lehrbefugnis wieder erteilt. Zum 1.1.1956 wurde er auf die neugeschaffene Professur „Physiologie für Psychologen“ berufen und zum 1.6.1961 emeritiert. Otto F. Ranke (1899-1959) wurde am 1.5.1946 kommissarischer Leiter des Instituts, aber bereits am 1.8.1946 durch die Militärregierung wieder entlassen, schließlich zum 16.9.1947 zum o. Professor und Direktor des Instituts berufen; er starb am Buß- und Bettag 1959.

Ansicht nach der Aufstockung 1972
Ansicht nach der Aufstockung 1972

Mit Ranke begann in Erlangen die Ära der Physiologie der Sinnesorgane und des Zentralnervensystems: aus der kreislaufphysiologischen Schule Philipp Broemsers in Basel, Heidelberg und München hervorgegangen, findet man seinen Namen zuweilen noch heute im Zusammenhang mit der Pulswelle und bestimmten physikalischen Eigenschaften des arteriellen „Windkessels“. Die mathematische Bearbeitung der Pulswelle übertrug Ranke auf die Flüssigkeiten des Innenohrs. Die so konzipierte „Wanderwellenhypothese“ der Frequenzdarstellung auf der cochlearen Basilarmembran wurde von Georg von Békesy in genialen Experimenten bestätigt; Békesy wurde 1961 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, zwei Jahre, nachdem Ranke im Institut vom Tod ereilt wurde. Sein Nachfolger, W.D. Keidel, verfasste einen Nachruf, der in „Ergebnisse der Physiologie“ erschien.

Erst im Frühjahr 2016 wurde im Institut bekannt, dass Ranke in seiner Berliner Zeit an der Militärärztlichen Akademie in deren Luftfahrtphysiologischem Institut (Leiter Hubertus Strughold) arbeitsphysiologische Untersuchungen zur militärischen Nutzbarkeit des Weck- und Aufputschmittels Previtins (N-Methamphetamin, in der Drogenszene heute als „Crystal Meth“ bekannt) durchgeführt hatte. Pervitin, bis Mitte 1941 frei erhältlich, unterdrückt Müdigkeit, Hunger und Schmerz, steigert die Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit, hat eine euphorisierende Wirkung und kann sehr schnell abhängig machen. Der millionenfache Einsatz von Pervitin soll den Erfolg von Hitlers „Blitzkriegen“ gegen Polen und Frankreich 1939/1940 begünstigt haben. Wenngleich Ranke in seinem Bericht von April 1940 Pervitin als „wertvolles Hilfsmittel“ ansah, „um in aussergewöhnlichen Lagen die Ermüdung mindestens der Führer zu durchbrechen“, warnte er auch davor, dass „langfristig durch Missbrauch Schädigungen eintreten“ und forderte eine ärztliche Kontrolle der Gabe von Pervitin (s. Bundesarchiv RH 12-23/1882).

Blick von der Bibliothek auf das heutige Institut
Blick von der Bibliothek auf das heutige Institut

Rankes Nachfolger Wolf D. Keidel (Vorstand von 1961 bis 1986) ist die Übernahme der Wanderwellentheorie aus der mechanistischen Betrachtung in die Elektrophysiologie zu verdanken, und er war dazu ein Wegbereiter der Ultraschalldiagnostik. Anfang 1965 wurden auf seinen Antrag hin, parallel zu seinem, ein zweiter Lehrstuhl und ein zweites Institut geschaffen, das heute unter dem Namen „Institut für Zelluläre und Molekulare Physiologie“ von Professor Dr. Christoph Korbmacher geleitet wird. Diese Duplizierung von Lehrstuhl und Institut war die erste in der deutschen Hochschulgeschichte; sie wurde von manchen Fachkollegen zunächst nicht verstanden und heftig kritisiert, setzte sich dann aber im ganzen deutschen Sprachgebiet rasch durch.

Hermann O. Handwerker (Vorstand von 1986 bis 2006) fokussierte seine Aufmerksamkeit und die seiner Mitarbeiter auf den Schmerz, der mit molekularbiologischer Methodik auf der Ebene seiner Rezeptoren bis hin zu den mit modernen „bildgebenden Verfahren“ (Imaging-Methoden) dargestellten zentralnervösen Projektionen intensiv bearbeitet wurde und weiterhin ein zentrales Thema der Arbeitsgruppen des Institutes ist. Neben seiner Tätigkeit als Institutsvorstand und seinem wissenschaftlichen Engagement war (und ist) er auch sehr an der Lehre und deren ständigen Verbesserung interessiert. Bei verschiedenen Anlässen hat er Reden gehalten, die zum Teil in den Sitzungsberichten der Physikalisch-Medizinischen Sozietät zu Erlangen erschienen und die mit freundlicher Genehmigung des Verlages Palm und Enke hier einsehbar sind.